Lumpenwalz Moselaufwärts

Seht! Draußen der Sommer! Sonngelber Löwenzahn, wolkenweiße Anemonen, Tuscheln des Windes in Baumeskronen. Was nur, was will es uns sagen? Bald, bald... Spätsommerwehen... Reifen.... Vergehen. Und ferne im Tal, darüber die Berge in Bläue sich heben, dort, wo niemandes Schritte gehen auf verlassenen Feldrainwegen, ein Blütenweben auf trächtigen Wiesen, als wäre allem im Dasein nur Sanftheit gegeben, als wäre die Welt ein einzig Genießen. Und droben im Wind: dies fröhliche Vogelfliegen... zu fernem Ziel, als liebte das Leben nur Lust und Reigen und Spiel.

Und wir? In Schluchten ernster Häuser verschollen. Von Menschenblicken, die uns viel Böses wollen, in Fesseln gelegt, in trübe Gedanken, daß sich kein Herzschlag verschütteter Sehnsucht mehr regt, umgeben von steinernen Schranken. Doch inmitten des lauten Gewühls trifft uns verlornes Erinnern, trifft uns ein tiefes, versunknes Gefühl: Einer lächelnden Seele heimliches Schimmern! Dann ist das Leben wieder sanft und schön, dann möchten wir noch ein kleines Stück Weges gehen und nicht mehr fürchten und fluchen, wollen wünschelrutengläubig das nächste Lachen des Sommers suchen.

Lumpenpack

Kirmesauftritt. "Hier in Karden ist Kirmes!", rief die Frau Wirtin, als sich die Sänger nach zwei Gläsern Wein zum Gehen anschickten. "Wir schauen mal vorbei!" Dort hockten vielleicht 200 Biederleute in einem Festzelt, unterhalten von einer elektroverstärkten Kombo, die Weisen wie "Ändschie" oder "Heidi" von sich gab und bei dem Anblick der unerwarteten Konkurrenz kurzerhand rief: "Aah, unsere Ablösung." Natürlich ließ diese sich nicht lumpen, kletterte beim Schlußakkord auf die Bühne, richtete die drei Mikrophone aus und kündigte die Lumpenbrüder an. Nach dem ersten Lied wurden des johlenden Publikums Dukaten eingesammelt und der Wunsch nach einer Zugabe befriedigt. Noch ein Grillwürstchen in den Magen gedrückt, schon sprangen die Lumpenbrüder in die erstbeste Kutsche und ließen sich gen Cochem chauffieren.

Autonom. Nun wollte der Wirt auch jene Kneipe schließen, welche als rote Laterne des örtlichen Gaststättenunwesens die bürgerliche Regsamkeit wachhielt. Gesungen hatten die Lumpiane viel, ebenso wurde ihnen ausgeschenkt. Auf die Frage, wo denn noch was los wäre, wurde von deren Hauptspendidieur das Autonome Zentrum genannt: "Meine Tochter Anna ist dort, bestellt ihr Geburtstagsgrüße, aber sagt nicht, von wem!" - "Klaro, Anna und Paul halten's Maul!" - "Aber paßt auf, dort sind gefährliche Leute, Linksextremisten!" - "Quark, wir waren schon in zig Autonomenhäusern." In jenem suchte man die Geburtstagsanna allerdings vergeblich, gerademal war ein Tisch aufzutreiben, an welchem eine Person Geburtstag hatte und eine andere Anna hieß. Dieser Umstand aber war kaum geeignet, die Stimmung grölender Lumpen und von deren Publikum zu trüben.

Abgeschlagen. Manchmal geht einfach nichts mehr. Wenn man in einem Städtchen bereits zweimal vom Konditor verwöhnt wurde und alsodann in einer Weinstube höflich gefragt wird, ob man vielleicht einen Flammkuchen speisen möchte, so muß man hinweilen doch ablehnen und auf die regionale Weinspezialität zu sprechen kommen: "Wir kosten mal lieber ihre Schwarze Katz!" Danach wandert man seinen Speck bis zum nächsten Orte leidlich ab. Aber auch abends wird die Sache nicht einfacher, wenn man nach ausgiebigem Mahle in der ersten Adresse ebenfalls das andere gute Haus der Stadt kennenlernen möchte und dann auf die Frage, was man denn essen möchte, nur ein wehmutsvolles "Ach, ach ... nein Danke!" ächzen kann.

Norwegerchor. Zunächst wollte ein Wirt in Bernkastel nur zögerlich zwei hungrige Mägen versorgen. Als aber nach dem ersten Lied, von den Weisen wohl angelockt, zwei Dutzend Norweger in die Herberge drängten, die Sänger umjubelten, Platz nahmen und "Mein Hut, der hat drei Ecken" wünschten, dem Weine zusprachen und alsodann Gesänge anstimmten, die wie aus fernen Zeitläuften und Fjorden zu dringen schienen, wurde auch dem Knauser das Herze weich. Nach dem Mahle mußten die nunmehr gestopften Lumpenmägen sogar noch die Branntweinsammlung verkosten.

Kammersänger. In einer anderen Spelunke wurden die Lumpenbrüder von einem Kammersänger erwartet, obschon sie einen Kammerjäger itzo hätten besser gebrauchen können: "Aäh, jetz kräeje we Musik! Kennt ihr's Musellied?" - "Nein, wir können nicht alles können, wir sind nicht von hier." - "Wu kämmt eä dä her?" - "Aus dem Erzgebirge." - "Sachema, schwätzt eä kan Mundart?" - "Nu glor, oba unnern Dialekt hemma schu fast vergassn inna Framde!" - "Hei, datt härt sech schu besser än, su jefallt eä meä! Dumm säin die, die die, die die Mundart huh halle, fia dumm halle!"

Verblüht. Einige Kneipen waren durchwandert, viele Weine probiert, die zugeworfenen Geldscheine verstaut. Als ein Gast vernahm, daß die Lumpenbrüder bei Mutter Grün zu nächtigen gedachten, alldieweil der örtliche Geistliche nicht im Orte, welcher Ausweg aus der mißlichen Lage hätte bieten können, versprach er großzügig eine Herberge. Die müden Gesellen vernahmen alsodann Gesprächsfetzen zwischen jenem Gast und der Wirtin, die gefahrvollen Inhalt zu bergen schienen: "... ein paar kräftige Hände für das Weingut!" - "... na aber, ich bin 55!"- "...junge Kerle ..." - "... ich bin doch keine Frau für eine Nacht!", währenddessen besagte Betagte gegenüber den Feilgebotenen mit dem kostenfrei ausgeschenkten Rebensafte immer freigiebiger wurde. Die Sache klärte sich denn immerhin derart gütlich auf, daß der Gast und dessen Gemahlin - angesehene Biederleute im Orte - den Gesellen ein wohlbereitetes Gästezimmer mit weichen Federbetten in ihren Gemächern zuwiesen und sie frühmorgens mit einem gutbürgerlichen Frühstück entließen. Einer der vorabendlichen Wirte, welchen Stunden vorher noch die Ungemach müder Wanderer dauerte und der nun just vor dem Hause vorbeilief, staunte nicht schlecht, als die Burschen lärmend aus der Tür purzelten: "Wo kommt ihr denn her?" - "Na aus unserer Penne!"

Wohnsitz. Vor dem Obdachlosenheim in Trier entwickelte sich folgendes Gespräch:

    Penneboos: "Was wollt ihr denn hier?"
    Lumpenbrüder: "Wir suchen ein Obdach für die Nacht, es sieht verdammt regnerisch aus."
    Penneboos: "Wir sind doch keine Jugendherberge."
    Lumpenbrüder: "Für die hätten wir auch kein Geld."
    Penneboos: "Habt ihr Ausweise?"
    Lumpenbrüder: "Nein, wozu braucht man sowas?"
    Penneboos: "Dort steht drin, ob ihr wohnsitzlos seid. Wo kommt ihr denn her?"
    Lumpenbrüder: "Aus dem Erzgebirge."
    Penneboos: "Ha, also habt ihr einen festen Wohnsitz!"
    Lumpenbrüder: "Im Winter schlüpfen wir dort irgendwo unter. Wir haben den Wohnsitz allerdings nicht mit."
    Penneboos: "Wir können nur Leute aufnehmen, die im Ausweis ‚wohnsitzlos' stehen haben."
    Lumpenbrüder: "Puh, wo bekommen wir jetzt solche Ausweise her?"
    Penneboos: "Im Rathaus gibt es die."
    Lumpenbrüder: "Das kostet doch bestimmt Geld!?"
    Penneboos: "15 Euro pro Nase."
    Lumpenbrüder: "Ohje, wo sollen wir denn das viele Geld herbekommen?"
    Penneboos: "Ihr müßtet euch beim Sozialamt melden."
    Lumpenbrüder: "Und dort muß man gewiß einen Ausweis vorlegen."
    Penneboos: "Genau."
    Lumpenbrüder: "Tja, da haben wir wohl Pech. Gibt es hier irgendwo eine Brücke?"
    Penneboos: "Hmm, ihr seht ja noch ganz manierlich aus. Spielt doch mal ein Lied, vielleicht läßt sich was machen."

    Die Lumpenbrüder singen.

    Penneboos flippt aus und brüllt nach der ersten Strophe: "Ich habe noch zwei Betten in einem extra Zimmer. Aber ihr müßt morgen nach dem Frühstück wieder draußen sein. Wollt ihr gleich hier Abendbrot essen?"
    Lumpenbrüder stolz: "Soviel Vertrauen haben wir noch in unsere Sangeskunst, daß wir in der Stadt zu speisen gedenken, deren Kurzweil uns lockt."
    Penneboos: "Aber bis Schlag Zehn müßt ihr hier sein. Kein Alkohol darf ins Haus, angetrunken kommt hier keiner rein. Ihr bekommt dann noch Bettwäsche, Handtücher, Rasierzeug. Früh um Sieben ist Wecken und Waschen, nach dem Frühstück seid ihr weg! Verstanden?"
    Lumpenbrüder: "Jawoll, Tscheff!"

Franzosengruß. In Trier stürmte eine Französin in die Kneipe, in der die Lumpenbrüder ihres wohlverdienten Essens harrten. "Eusch habe isch gesehen, in Cochem!" Mit strahlenden Augen stand sie da, und die wettergegerbten Halunken wußten sich vor der jugendhaften Anmut kaum zu helfen: "Ähh, ja, da war'n wir ooch!" - "Ihr reist dursch das Land, mit Rucksack?" - "Ja, notgedrungen." - "Und siengt!?" - "Momentan knurrt nur der Magen!" - "Iehr seid lustiesch!" - "Hmmmm, selber!" - Und schon war sie wieder lachend verschwunden. Doch ehe die Gedanken nach Welschland in einen Pariser Harem reisen konnten, stand ein riesiger Pott Essen auf dem Tische, das der Wirt kredenzte, und das alle leiblichen Sinne forderte.


Königsspruch. Bin zwar nicht der kleine König / dennoch hab ich frischen Mut / deshalb gebt mir nicht zu wenig / darum reiche ich den Hut!